Das AG Charlottenburg hat mit Urteil vom 11.5.2015 zum Aktenzeichen 253 C 133/13 einer Klage auf Erteilung einer Zustimmung zu einer Mieterhöhung für eine Wohnung in Berlin Charlottenburg stattgegeben. Dabei hat es sich aber in den Urteilsgründen nicht auf den von seinen Verfassern als „qualifiziert“ bezeichneten Berliner Mietspiegel aus dem Jahr 2013, sondern auf ein Sachverständigengutachten über die Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete der in Berlin Charlottenburg gelegenen Wohnung bezogen.
Dem Urteil vorangegangen war eine Beweiserhebung über die Frage, ob der Berliner Mietspiegel 2013 nach wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt wurde und damit als qualifizierter Mietspiegel im Sinne des § 558 d BGB einzuordnen ist. Der zum Sachverständigen berufene Hr. Dr. Krämer, Professor für Statistik an der TU Dortmund, gelangte nach den Formulierungen in den Entscheidungsgründen zu einem sehr deutlichen „Nein“.
Das Urteil erfährt eine große Resonanz, nicht nur weil es im Mietrecht einen wesentlichen Aspekt nämlich die Möglichkeit der Mieterhöhung regelt sondern auch, weil der Mietspiegel die ortsübliche Vergleichsmiete abbilden soll und derzeit bei der ganz überwiegenden Zahl aller Mieterhöhungen auch tatsächlich maßgeblich ist. Seine Bedeutung wächst nun erheblich mit der Mietpreisbremse (MietVovG), mit der mit einigen Ausnahmen vorgeschrieben wird, dass bei einer Neuvermietung von Bestandswohnungen in den per Verordnung festgelegten Gebieten die Miete nur noch auf 10% über der ortsüblichen Vergleichsmiete steigen darf. Die Mietpreisbremse stützt sich somit auf den Mietspiegel, da die anderen Begründungsmittel, die das Gesetz zulässt, zur Zeit deutlich weniger Relevanz haben. Wenn der Mietspiegel kippt, kippt dann auch die Mietpreisbremse, wie bereits gemutmaßt wird?
Bei aller Diskussion, die derzeit geführt wird und die durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Mietpreisbremse noch aktuell ist – schon allein deshalb, weil die zur Festlegung einzelner Gebiete berufenen Länder keinesfalls einheitlich die Mietpreisbremse einführen wollen – sollte das Urteil sachlich richtig eingeordnet werden. Weder geht es darum, das Vergleichsmietensystem in Frage zu stellen, noch Mieterhöhungen generell in Frage zu stellen, wenn sie mit einem Mietspiegel begründet werden. Letztes wäre schon allein deshalb verfehlt, weil eine Mieterhöhung sowohl mit einem qualifizierten als auch mit einem einfachen Mietspiegel begründet werden kann. Legitim ist es hingegen, die Frage zu stellen, ob und wann ein Instrument geeignet ist, gewichtig in einen Prozess Einfluss zu nehmen, in dem es für sich die Vermutung in Anspruch nimmt, Gegebenheiten richtig darzustellen, also die Gewähr für die Richtigkeit und Aktualität der in ihm enthaltenen Daten übernimmt (BT-Drucks. 14/4553 S.57) Dies hat neben der technischen Frage auch eine kommunikative Komponente. Die Erstellung und die Sammlung der Daten für den Mietspiegel ist zweifelsfrei veröffentlicht. Dennoch dürfte noch ein gewisser Anteil an fehlender Transparenz vorhanden sein. So beschrieb Dr. Börstinghaus in der Expertenanhörung vom 3. Dezember 2014 des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages zu der beabsichtigten Mietpreisbremse (MietNovG) den Rahmen zur Erzielung des Einvernehmens der Interessenvertreter zur Verabschiedung eines Mietspiegels eher gesellig („abends bei einer Flache Wein“), dem zwar ein freundlicher Ordnungsruf der Sitzungsleiterin Fr. Künast folgte, aber nicht minder ein Problem des Mietspiegels deutlich machte. Seine Erstellung ist nicht transparent genug und erfüllt somit – noch – nicht die Anforderungen an die Dokumentation, an die der Gesetzgeber bei dessen Einführung im Rahmen des Mietrechtsreformgesetzes gedacht hatte (BT-Drucks. 14/4553 S. 57) Es lässt sich offenbar nicht gänzlich ausschließen, dass Einzelheiten des Mietspiegels eher im Verhandlungswege, denn auf tatsächlichen Datensätzen basierend festgeschrieben werden. Umso weniger ist es verwunderlich, wenn somit sowohl die Datenmenge als auch ihre Auswertung in Frage gestellt werden, zumal der Mietspiegel einen Zeitraum von vier Jahren betrachtet und gerade keine aktuelle Marktmiete belegen soll. Diese Bedenken sollte man ernst nehmen und das Urteil insbesondere nicht klein reden oder bewusst oder unbewusst den Eindruck vermitteln, es sei überholt, da es ja nur den Mietspiegel aus dem Jahr 2013 betreffe. Der Mietspiegel aus dem Jahr 2015 ist nämlich keine Neuerstellung, sondern eine Fortschreibung des Mietspiegels aus dem Jahr 2013.
Vorab sei zu dem Urteil auf folgendes hingewiesen: Laut der Formulierung wurde zwar über die Behauptung der Klägerin, die ortsübliche Miete ergebe einen gewissen Betrag Beweis erhoben. Ob der Mietspiegel nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt wurde, galt als „Frage“, über die Beweis erhoben wurde. Das erste Beweisthema unterfällt damit eindeutig unter die Beweislast der Klägerin; bei dem zweiten ist nach der konkreten Formulierung Zweifel angebracht, wer nach Auffassung des Gerichtes die Beweislast dafür trägt, dass der Mietspiegel nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen aufgestellt wurde. Auch dieser Punkt wird für Folgeprozesse von einiger Relevanz bleiben, da ein entsprechendes Gutachten erhebliche Kosten verursacht, die mit Sicherheit einen mehrjährigen streitigen Erhöhungsbetrag übersteigen werden. Allein schon die Anforderung des Kostenvorschusses von der beweispflichtigen Partei dürfte diese in dem einen oder anderen Fall entweder überfordern oder dessen Prozesstaktik zumindest insoweit einer gewissen Hinterfragung zukommen lassen, ob gegen den Mietspiegel als solchen vorgegangen werden sollte.
Im Kern geht es darum, ob dem Mietspiegel im Rahmen der freien Überzeugungsbildung gem. § 292 ZPO die Vermutung zukommt, dass die in ihm angegebenen Entgelte die ortsübliche Vergleichsmiete wiedergeben. Diese Wirkung kann der Mietspiegel dann – und damit die Partei, die sich zur Unterstützung ihres Vortrages hierauf beruft – für sich in Anspruch nehmen, wenn der Mietspiegel qualifiziert ist. Diese Qualifizierung hat mehrere Tatbestandsvoraussetzungen. Der Mietspiegel muss von der Gemeinde oder den Interessenvertretern der Vermieter und Mieter anerkannt sein, er muss alle zwei Jahre fortgeschrieben und der Mietspiegel muss nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt worden sein. Fehlt auch nur eine dieser Voraussetzungen, ist der Mietspiegel nicht qualifiziert; er reicht zwar als Begründungsmittel des Mieterhöhungsverlangens, erfährt hingegen nicht die prozessuale Bedeutung einer im Einzelfall äußerst schwierig widerlegbaren Vermutung. Der Mietspiegel muss seine Tatbestandsmerkmale hierfür im Prozess unstreitig (eine Variante, die spätestens nach diesem Urteil wohl schwer denkbar ist und in Anwaltsprozessen Regresse nach sich ziehen könnte), offenkundig im Sinne des § 291 ZPO (auch dies dürfte nach diesem Prozessausgang nach erfolgter Beweisaufnahme sehr unwahrscheinlich sein) oder nachweislich (also nach erfolgter Beweiserhebung)erfüllen. Diese Ausgangslage war bereits vor dem Urteil des AG Charlottenburg aufgrund des Urteils des BGH vom 6. November 2013 VIII ZR 364/12 sowie zuvor Urteil v. 21.November 2012 – VIII ZR 46/12) ) bekannt. Auch, dass substantiierte Angriffe gegen die Erstellung des Mietspiegels nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen nicht erst zur Widerlegung der Vermutungswirkung, sondern bereits zuvor, nämlich dabei zu berücksichtigen sind, ob eine Vermutungswirkung überhaupt in Kraft treten kann.
Substantiiert waren für das AG Charlottenburg folgende Angriffe: Die Einteilung der Wohngebiete – einfach, mittel, gut sei willkürlich. Dabei sei es unsachgemäß, diese drei Gebietstypologien über das gesamte Stadtgebiet zu verteilen und dabei zu unterstellen, dass diese eine annähernd gleichartige und vergleichbare Sozial-, Infrastruktur und Wohnqualität aufweisen würden. Untermauert wurde dies durch die Vergleiche von sozialschwachen und –starken Lagen, die aber gleichsam als „Mittel“ eingestuft werden. Vertiefend argumentiert wurde dabei mit den erheblichen Unterschieden in den Bodenrichtwerten in den berlinweit selben wohnqualitativen Lagen. Dieses Argument erinnert an die Diskussion über die Festsetzung von Sanierungsausgleichbeträgen, bei denen das Land Berlin ganz unabhängig von der Lage der jeweiligen Sanierungsgebiet durchgängig für alle Sanierungsgebiete in Berlin einen gleichen unveränderlichen Bodenanteil festsetzt (Vgl. Anlage 2 zur AV Ausgleichbeträge) , wohingegen Leipzig (Gutachterausschuss Beschluss vom 25.10.2012) sich bei gleicher Anwendung des Zielbaumverfahrens davon losgesagt hatte[1]. Der Sachverständige bezweifelt sodann, dass die dem Mietspiegel zugrunde liegende Stichprobe repräsentativ sei und wertet die Definition der Mietspiegelzellen und die Zuordnung der Wohnungen zu diesen als systemwidrig. Praxisfern sei der Ansatz der Betriebskosten und – am deutlichsten – seien die per Regressionsanalyse ermittelten Zu- bzw. Abschläge „Fantasieprodukte“ (Urteil S. 8, 3. Abs.) Auch die Extremwertbereinigung sei nicht zutreffend, da mit dem angewandten Verfahren – Eliminierung aller Werte außerhalb eines 95% Vertrauensintervalls – gerade nicht nur Wucher- bzw. Gefälligkeitsmieten sondern tatsächlich zu berücksichtigende Marktmieten abgeschnitten würden.
Die weitere Entwicklung wird mit Spannung abzuwarten sein. Erst nach intensiver Durchsicht des Gutachtens wäre eine Untersuchung der Frage möglich, ob bei der Fortschreibung des Mietspiegels im Jahr 2015 die vermeintlichen Mängel behoben wurden. Natürlich erstreckt sich die Rechtswirkung nur auf die am Verfahren beteiligten Parteien. Ob das Urteil vor dem Landgericht Bestand behält, bleibt ebenso abzuwarten wie eine denkbare Revision zum BGH, der bereits in der o.g. Entscheidung ein Urteil des Landgerichts Berlin aufgehoben hatte. Denkbar ist auch, dass – wie die Verfasser F+B des Berliner Mietspiegels vertreten, dass Hr. Prof. Dr. Krämer nur einen von mehreren zulässigen Wegen beschritten habe und sie mit der Erstellung des Berliner Mietspiegels nur einen anderen anerkannten wissenschaftlichen. Substantiierte Einwände werden nun allerdings wohl häufiger auftreten, möglicherweise auch Mieterhöhungen, die über die Spannenwerte des Mietspiegels hinausgehen. Für die Fortentwicklung des Vergleichsmietensystems kann das nur vorteilhaft sein. Die Bedenken und Hinweise auf gegebenenfalls tatsächlich vorhandene Fehler werden dazu beitragen, dass diese behoben werden. Wenn alle diese Einwürfe wissenschaftlich transparent zusammengetragen werden, dürfte es sogar möglich werden, die vom Gesetzgeber mit § 558 Abs. 5 BGB eröffnete Möglichkeit, die Einzelheiten eines Mietspiegels mit Verordnung zu regeln, zu nutzen. Wenig sinnvoll erscheint es jedoch, bei der gegenwärtigen Situation über eine Veränderung der Bezugsmenge (Erhöhung des 4-Jahreszeitraumes) nachzudenken, ohne sich sicher zu sein, wie man Daten gerichtsfest sammelt und zutreffend auswertet. Schließlich ist es auch denkbar, dass sich bei einem einheitlichen Verständnis über die anerkannte wissenschaftliche Methode Mietwerte ergeben, die ein weiteres politisches Handeln überflüssig werden lassen.
[1] Der Leipziger Mietspiegel 2015 wurde durch das Sozialamt und das Amt für Statistik und Wahlen auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobenerhebung erarbeitet